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,Hyperfiktion und interaktive Narration'
im frühen Entwicklungsstadium zu einem Genre

Abstract einer Dissertation

von Beat Suter

Mit Hyperfiktion hat sich ein Phänomen herausgebildet, das sich die Verbindung von Literatur und Computertechnik schöpferisch zu Nutzen macht und experimentell nach neuen Formen sucht. Die entstehenden Hybridformen sind in erster Linie beliebig manipulierbare binäre Daten, die in mehrfacher Hinsicht von transitorischer Flüchtigkeit geprägt sind. Die Bewegung der Hyperfiktion und Netzliteratur steht noch am Anfang: in einer experimentellen Frühphase. So ist die Spurenaufnahme und Analyse ihrer Entwicklung immer auch ein Balanceakt zwischen Archäologie und Futurologie. Diese Arbeit versucht innerhalb dieser beiden Pole Grundlagenarbeit zu leisten für eine neue experimentelle Form von Literatur.

Ein neues Genre in Entwicklung

Das Entwicklungsstadium, in dem sich Hyperfiktion und Interaktive Narration befinden, ist vergleichbar mit demjenigen des Films zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als die Collage eine Innovation war, der Film noch ohne Ton auskommen musste und zahlreichen Künstlern Material und Möglichkeiten für verschiedenartige Experimente bot. Die Autoren und ‘Entwickler’ von Hyperfiktionen sind auf der Suche nach den passenden Ausdrucksformen und narrativen Mustern, die dem neuen Medium Netzwerkcomputer und seiner Möglichkeit der medialen ‘Person-zu-Person-Echtzeit-Kommunikation’ entsprechen. Diese Suche hat sie auf einen Weg gebracht, der in Richtung einer multimedialen Erzählform führt, die polyvalent und interaktiv sein soll. So bilden Hyperfiktion und interaktive Narration heute ein neues Genre. Die Umrisse dieses Genres jedoch sind noch sehr verschwommen, da sich Hyperfiktionen in einer Phase des Experimentierens sowie der ständigen Bewegung und Veränderung befinden und keinen finalen Charakter zu haben scheinen. Hier setzt denn auch die Arbeit ein: Sie versucht, eine dokumentarische und analytische Beschreibung des Phänomens Hyperfiktion zu leisten und seine Entwicklung zu einem neuen literarischen Genre aufzuzeichnen.

Während der Entstehung dieser Arbeit haben Janet H. Murray, Adrian Miles, und andere, die sich mit Hyperfiktionen und Interaktiven Fiktionen befassen, Arbeiten oder Artikel veröffentlicht, in denen sie das Auftauchen dieses neuen Genres mit der Entwicklung des Films Anfang diese Jahrhunderts vergleichen. Es ist nicht Absicht dieser Arbeit, den Vergleich von Stumm-, bzw. Experimentalfilm mit textbasierten Hyperfiktionen explizit auszuführen – ein Vergleich, bei dem beispielsweise die Montage wie der Hyperlink als ein genuines Element, die Stummheit wie die reine Textbasiertheit aber als ein Mangel erscheinen könnten. Es wird jedoch versucht, ein neues Genre als Ausdrucksform eines neuen Mediums zu beschreiben, welches von der Technologie dieses Mediums und der schnell voranschreitenden Entwicklung lebt und sich in Wechselwirkung damit auf gemeinsamen Fluchtlinien weiterentwickelt.

Hyperfiktion kann und soll zwar als eine neue Gattung oder zumindest ein neues Genre betrachtet werden. Sowohl Genres und Gattungen der Literatur als auch der Kunst bilden indessen nicht nur formale, sondern – so bei Todorov, – auch sogenannte ‘sozialhistorische Entitäten’. Literarische Genres sind also konventionsbedingt, ihre Existenz folgt keiner inneren Notwendigkeit, sie können deshalb als historisch bedingte Kommunikations- und Vermittlungsformen beschrieben werden. Das Genre ‘Hyperfiktion’ muss demzufolge auch im Kontext sozialer Veränderungen betrachtet werden. Die soziale Veränderung wird in diesem Fall ausgelöst durch die Maschine Computer, die neuen Möglichkeiten des Speicherns, Löschens, Überarbeitens, Verknüpfens, Vernetzens und Interagierens sowie das beschleunigte Voranschreiten bei der Entwicklung von Software, das heisst die ständige Verbesserung und Erweiterung der elektronischen Aufschreibesysteme, Aufschreibetechniken und Interaktionsmöglichkeiten. Immer deutlicher zeichnet sich die Ausbildung eines ‘Aufschreibesystems 2000’ ab, wie Friedrich Kittler in einem ergänzenden Nachwort des Werks ‘Aufschreibesysteme 1800/1900, das nur gerade angedeutet hatte. Die neuen Technologien haben unsere Wahrnehmungs- und Produktionsgewohnheiten innert kurzer Zeit von der ‘historisch mächtigen Formation’ des Buchdrucks weg hin zu den Befehls-Codes, Schaltkreisen und Mikroprozessoren gelenkt und damit nachhaltig verändert. Wenn nun auch die Literaturwissenschaft sich mit den neuen Wahrnehmungs-, Produktions- und Speichersystemen auseinandersetzt, ist das beinahe schon Notwendigkeit. Denn gerade die Literaturwissenschaft kann von einer Informations-theorie, die den erreichten technischen Stand formalisiert anschreibt, nur lernen.

Die erkennbaren Entwicklungstendenzen von einfachen zu komplexen Formen, in diesem Fall vom elektronischen Text zu Text und Bild, zum Bild und weiter zum bewegten Bild und zu simulierten Umgebungen, bzw. von statischen Lesetexten zu interaktiven ‘Multi-User-Welten’ sind ein wichtiges Indiz für den Weg in Richtung einer neuen multimedialen Erzählform. Diese fliessenden Entwicklungen und Überschreitungen machen es nicht zuletzt immer schwieriger, klassische ästhetische Grenzen zu ziehen. Die Tendenzen zeichnen das Bild von der Experimentalphase eines jungen im Aufbruch befindlichen Mediums: von einer rein textbasierten Hyperfiktion wie Michael JoycesAfternoon, a story’ und einer rein textbasierten Umgebung eines ‘Multi User Dungeons’ über Hyperfiktionen einer neuen Avantgarde im World Wide Web wie Susanne Berkenhegers dynamische Fiktion ‘Zeit für die Bombe’ und Dirk Günther und Frank Klötgens Bilderdrama Die Aaleskorte der Ölig’ bis hin zu vollkommen immersiven Bildumgebungswelten mit Filmsegmenten und Tonspur wie in den Abenteuerspielen Riven’ und The Last Express’.

Zum Aufbau der Arbeit

Da es bei Beginn der Arbeit 1995/ 1996 lediglich vereinzelte Texte und Projekte im Netz gab, aber noch kein mehr oder weniger klar umrissenes Korpus deutschsprachiger Hyperfiktion, musste in einem ersten Schritt ein solches Textkorpus erstellt werden. Dieses Korpus wurde online in der Form von Listen erarbeitet und ständig nachgeführt. Es wurde per Ende 1998 abgeschlossen und dokumentiert nun die deutschsprachigen Hyperfiktionen der Pionierjahre 1994 bis 1999.

Dem Korpus voraus geht der Entwurf einer Strukturtypologie der erfassten elektronischen Texte. Sie soll eine Unterscheidung der Werke sowie die strukturelle als auch kontextuelle Analyse derselben ermöglichen. Grundlegende Strukturmuster sind dabei Linie, Baum und Rhizom, wovon letztere beiden zur Beschreibung von Hyperfiktionen dienen können. Das Rhizom verbindet – nach Deleuze und Guattari – einen beliebigen Punkt mit einem anderen; jede seiner Linien verweist nicht zwangsläufig auf gleichartige Linien, sondern bringt sehr verschiedene Zeichensysteme ins Spiel und sogar nicht signifikante Zustände. Der Baum – es kann auch die Wurzel eines Baumes an Stelle der Baumkrone als direktes Vergleichsmuster herangezogen werden – und das Rhizom stehen hinsichtlich ihrer Struktur in einer klaren Opposition zueinander. Während der Baum eine hierarchisch organisierte, offene Struktur repräsentiert, die in immer neue Verzweigungen vom Ausgangspunkt weg wächst, stellt das Rhizom eine antihierarchische Struktur dar, die in alle Richtungen wuchert und immer neue Knoten produziert, welche teils wieder miteinander verwachsen können. Wieder bei Deleuze und Guttari ist das Rhizom ein nicht zentriertes, nicht hierarchisches und nicht signifikantes System ohne ein organisierendes Gedächtnis. Das Rhizom definiert sich allein durch die Zirkulation der Zustände. Das heisst: Ein Teil eines Rhizoms hat eine grosse Autonomie und kann sich selbst ergänzen, während der gekappte Ast eines Baumes abstirbt, der Baum also die hierarchische Verknüpfung zum Überleben braucht. Der Baum ist eine traditionelle Strukturform, das Rhizom eine neuartige Struktur, deren Einfluss immer grösser wird. Hyperfiktionen weisen – ähnlich wie architektonische Bauten – Grundrisse und Aufrisse, also sogenannte Baupläne, auf. So kann mittels detaillierter Strukturmuster der (Text-)Architektur von Hyperfiktionen auf die Spur gekommen werden. Diese Muster vermögen die verschiedenen Entscheidungsknoten und die diversen navigierbaren Pfade eines Systems aufzuzeigen und so ein klareres Bild einer Hyperfiktion zu vermitteln.

Der Präsentation des Korpus folgt eine summarische Auswertung der erfassten Texte sowie die deskriptive Analyse von fünf aus dem Korpus ausgewählten, exemplarischen Hyperfiktionen.

Um die Voraussetzungen zur Untersuchung von Texteinheiten, Hyperlinks und Narrationsmuster von Hyperfiktionen zu schaffen, musste zuvor die Kommunikationssituation Mensch/ Maschine genauer betrachtet werden. Dazu waren einige Arbeitsdefinitionen von Begriffen nötig geworden, die eine zentrale Bedeutung für das Genre der Hyperfiktion haben. Ebenso war es notwendig, einige Abgrenzungen im Bereich der Verwendung unterschiedlicher elektronischer Kommunikationsformen und Formate auszuarbeiten. Eine Untersuchung der Sendekanäle einiger exemplarischen Hyperfiktionen und Spiele zeigt, dass besonders der Begriff "Interaktivität" mit Vorsicht benutzt werden sollte. Denn was den neuen elektronischen Formen im Vergleich zur herkömmlichen Massenkommunikation eigen ist, bzw. dem Internet allgemein, sind vor allem mehr Auswahlmöglichkeiten (Wahl der Pfade) sowie deutlich mehr Möglichkeiten zur multimedialen Verknüpfung (Dynamisierung). Von Interaktivität kann man nur da wirklich sprechen, wo Menschen mit Menschen, bzw. soziale Wesen miteinander interagieren. In den meisten Hyperfiktionen jedoch nimmt der Computer, bzw. das Medium stets die gleiche Akteurrolle ein wie der beteiligte Mensch.

Eine systematische Untersuchung der Strukturen von Hyperfiktionen muss sich selbstverständlich mit den einzelnen Elementen dieser neuen elektronischen Erzählform befassen. Dazu wurde der elektronische Text, der den Hyperfiktionen zugrunde liegt, genauer unter die Lupe genommen. Er bietet sich uns zerstückelt in Form von einzelnen, unterscheidbaren Textblöcken oder Texteinheiten an, die es als Fragmente des Bezugssignifikanten sowie in der räumlichen Funktion in einem virtuellen Umfeld zu untersuchen gilt. Dabei muss die sogenannte Texteinheit unter verschiedenen Aspekten betrachtet werden: als Lexie, als Textraum, als Skriptraum. Der Prozess des Lesens wird dabei zur transversalen Funktion. Indem der Leser Skripte "nachschreibt", kreiert er aus den vorhandenen Texträumen eigene Nachschriften bzw. Geschichten.

Die Technik der Hypertextlinks ermöglicht ein unmittelbares Verknüpfen verschiedener Texteinheiten auf multiple Weise. Eine solche Verknüpfung kann in einem Sprung sofort nachvollzogen werden. Links arrangieren Zuordnungen von Sequenzen oder Episoden, bzw. Text und Skripträumen und bringen mit diesem "Sprung" ein Element der Aktion in den Text, das sich vom Umblättern einer Buchseite fundamental unterscheidet. In vielen Hyperfiktionen kommt den Links oder Verweisen denn auch eine sehr zentrale, die Erzählung konstituierende Bedeutung zu. Mit den Begriffspaaren "optional/ notwendig", syntagmatisch/ paradigmatisch" "Aufschub/ Ausstieg" und "präskriptiv/ performativ" wird versucht, den Eigenschaften eines Links auf die Spur zu kommen.

Elektronische Hypertexte zeichnen sich oft dadurch aus, dass sie keinen eindeutigen Narrationspfad vorgeben, sondern ganze Netzwerke von Möglichkeiten anbieten. Raum und Zeit nehmen dabei wie in traditionellen Texten eine zentrale, ‘erzählungskonstituierende’ Rolle ein. Während in vielen Hyperfiktionen die Zeitdimension über die Hyperlinks erstellt wird, generieren die Texteinheiten den fiktiven Raum. Diese Raum- und Zeitdimensionen werden in Hyperfiktionen über das Prinzip des Weges verknüpft, das heisst, der Topos des Pfads verknüpft die Dimensionen zu einer Narration. Diese narrative Verknüpfung muss aber meist vom Leser selbst geleistet werden, der mitentscheidet und mittels Anwählen einzelner Hyperlinks von Texteinheit zu Texteinheit transportiert wird und somit eine Reise unternimmt. Der Leser handelt dabei quasi als Agent, der sich eine Geschichte zusammensucht, indem er subjektiv entscheidet und agiert. In der Arbeit wird näher untersucht, wie diese vektorale Interaktion zwischen dem Leser und dem Text vor sich geht und was daraus entsteht.


Beat Suter: Hyperfiktion und interaktive Narration im frühen Entwicklungsstadium zu einem Genre. Zürich: update verlag 2000. ISBN: 3-908677-05-X. 196 Seiten. DM 39.80; CHF 38.00.

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© Beat Suter; 5. Juli 2000